Als das Jahr 2000 anbrach, verbannte ich über 99 Prozent meiner Schallplatten auf den Dachboden. Ich hatte die Nase voll von Platzfressern und Pressware, die mir nichts mehr sagte, die ich mir nicht mehr anhörte. Lediglich einige ausgesuchte Juwelen behielt ich unten in der Wohnung. Die Auswahl traf ich spontan, doch die Fehlerquote war gering, wie sich zeigte. Nur selten musste ich in den folgenden Jahren die Treppen zum Dach hochsteigen, vorbei an Lester, unserem hauseigenen Karlsson, um das ein oder andere Vinyl nachzuordern, City Lights – Dr. John. Pop Pop – Rickie Lee Jones. He is the Light – Al Green.
Dass ich relativ selten Musik hörte, lag auch am kränkelnden Equipment. Mal war bloß der Stecker des CD-Players kaputt, (was heisst “bloß” – ohne Stecker geht gar nichts), mal gab der Plattenteller des Plattenspielers seinen Geist auf und bewegte sich mit 0 Umdrehungen durch sein schwarzes Gummigrab.
Erst als mein Vater ins Altenheim umsiedelte und ich mir seinen HiFi-Turm unter den Nagel riss, inklusive Plattenspieler, Kenwood-Verstärker, einem Satz Boxen und HiFi-Recorder mit zwei Motoren, CD-Player sowie einem zweiten Verstärker und einem weiteren, insgesamt dritten Kassettendeck, war ich wieder im altehrwürdigen Musikgeschäft.
Sagen wir, ich hätte es sein können, denn ich war es nicht. Trotz des funktionierenden 6stöckigen Equipments und der durchaus vorhandenen Bereitschaft, mich von brandneuen Songs elektrisieren zu lassen, hatte ich das Interesse an Popmusik verloren – und hab es bis heute nicht wiedergefunden. Und mittlerweile reicht es vollkommen aus, ein LP-Cover zur Hand zu nehmen und im Geiste die Stücke durchzugehen, die ich früher oft gehört habe. Mehr brauche ich nicht. Mein Speicher ist zum Bersten gefüllt.
Die 50 besten Platten meines besten Lebens, Folge14.
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An einem Samstag Ende September sind wir im Trio unterwegs, Mann, Frau, Hund, – die 3 ist eine magische Zahl, die 3 zeigt an, dass es losgeht, dass die Dinge ins Rollen kommen – doch die folgende Sensation wird lediglich von mir wahrgenommen:
Als ich beim Gehen gleichmütig nach rechts schaue, kommt wie aus dem Nichts ein rotes Laubblatt angeschaukelt. Ganz automatisch öffnet sich meine Hand und ich schnappe das Blatt mit einer Lässigkeit aus der Luft, als würde ich Wechselgeld entgegennehmen und dabei noch mit dem Wind flirten.
Großartig.
“Hast du das gesehen..?”
“Mh?”
“Na, das Blatt.. Wie das angesegelt kam und wie locker ich das aus der Luft gepflückt habe..”
“Was für ein Blatt?”
“Na, das hier..!”
Es liegt auf meinem Handteller. Ich bin begeistert vom eigenem Flair. Dass mir das passiert. Ich bin auserwählt. Big Deal, Honey.
“Ist direkt hier reingetrudelt, in the palm of my hand. Ich glaub, das ist mir noch nie passiert, in meinem ganzen Leben nicht.. So locker, wie bestellt.”
“Moment mal.. In the palm of my hand?” Die Gräfin bleibt stehen. “Woher kenn ich das noch mal..? Ist das nicht aus einem Song von Dylan?”
“Dylan? Welcher Dylan?”
“Wie, welcher Dylan?! Bob Dylan natürlich!”
“Ja gut, aber heutzutage hat jeder seinen eigenen Bob Dylan. Es gibt einen italienischen Bob Dylan, einen russischen und einen bayrischen, es gibt Songwriter in Australien, die als the new Bob Dylan gefeiert werden, Köln hat seinen Bob Dylan, England hat einen, Montenegro wahrscheinlich auch, und Amerika.. Amerika hat garantiert hundert Bob Dylan.”
Als ich fertig bin, legt sie diesen Blick auf, den sie immer dann auflegt, wenn mir die Gäule durchgehen. Ein Blick, der ungefähr so viel bedeutet wie, jetzt mach mal halblang, du alter Schnurrrad-Conferencier auf dem Sommerfest vom Spar-Klub.
“Wenn ich Dylan sage, meine ich natürlich den einzig echten Welt-Bob Dylan”, sagt sie feierlich.
“Du meinst Robert Zimmermann.”
“Genau. Und der kommt aus Amerika, wie so ziemlich alle echten Menschen in den letzten hundert Jahren.”
“Bis auf Juri Gagarin.”
“Juri Gagarin?”
“Ja, der erste Astronaut im All, ein Russe. Als er zurück auf der Erde war, sagte seine Mutter: Was hat der Junge bloß wieder angestellt? Eine Legende.”
Sie lächelt.
“Na schön. Aber weißt du auch, was Dylans Geheimnis ist?”
Ich überlege ein bisschen, weil Dylan vermutlich das größte Geheimnis der Popmusik insgesamt ist, aber das mal eben auf einen Nenner bringen.. mh, schwierig.
“Dylans Geheimnis ist, dass er es sich erlauben kann, Rätsel aufzugeben”, fährt sie fort. “Dass die Leute sich nicht gelangweilt abwenden, sondern versuchen, seiner Magie auf die Schliche zu kommen. Das schafft nur er, auf die Länge der Karriere gesehen.”
Beim Weitergehen beginnen wir Like a rolling stone zu summen, und je länger wir summen, desto mehr reisst uns das beste Lied aller Zeiten mit. Zuletzt stürzen wir kopfüber in den Refrain, als ginge es die Klippen runter, mit Sehnsucht und Südstaaten-Whiskey in der Stimme.
“Darin kommt aber nicht in the palm of my hand vor. Das ist ein anderer Song. Aber ich komm nicht drauf, welcher..”
Da kann ihr auch nicht weiterhelfen.
“Na, nicht schlimm”, meint sie. “Hauptsache, ich denke automatisch an Bob Dylan, wenn mir irgendwo das Wort palm begegnet, und nicht an Palm-Fett. Ich bin immer noch ein Rocker.”
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Am 16. Juni 2015 war es genau 50 Jahre her, dass Like a rolling stone in New York aufgenommen wurde – ein Song, der ursprünglich 50 Strophen zählte und von dem Dylan selbst sagt, es sei der beste, den er je geschrieben habe.
Das amerikanische Rolling Stone Magazin kürte Like a rolling stone im Jahr 2004 zum besten Song aller Zeiten (bis dahin), vor Satisfaction von den Stones und Imagine von Lennon.
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Ich seh mich 1976 mit langem Haar und orangefarbenen Stereo-Kopfhörern vorm Plattenspieler sitzen und dieses (irgendwie frugale) Meisterwerk hören, wieder und wieder. Allein der Schwung, mit dem Like a rolling stone aus den Startblöcken kommt, diese gewaltige Raubkatze, die sich sechs Minuten lang daran macht, ihr Revier mit Träumen zu markieren.. und tief in den Büschen versunken hocken wir, die Beute, die 16jährigen, die Dylanmafia, voller Hingabe.
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Was für ein Gefühl das sein muss, über die Straße zu gehen und zu denken, Mannomann, ich hab den cleversten Popsong aller Zeiten geschrieben.
Boah.