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Rote Herzinfarkt-Limousinen jagen durch die Stadt

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.. und ich steh am Strassenrand.

Seit ich selbst in so einem großen roten Kasten durch die Strassen geflogen bin, höre ich anders hin, wenn eine Sirene sich nähert. Als wären die vielen hundert Male zuvor bloß Staffage gewesen, jahrelanger Probealarm. Seit dem Herzinfarkt liege ich in jedem gottverdammten Ambulanzwagen, der durch die Strassen tobt. Seit mir das Leben gerettet wurde, wird mir jedes Mal das Leben gerettet. Auch wenn jemand anderes hinten drin liegt und um sein Leben kämpft:

Ich bin das.



Penny und der Kassierer

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Boxer, ich spreche von der Hunderasse, kann ich um Längen besser leiden, seit man ihnen das Speicheln größtenteils weggezüchtet hat. Dieses ganze Gespucke und Gesabber, das ihnen aus der Schnauze flog wie ausser Kontrolle geratene Scum Shots – ich meine, dem Sauzeugs trauert wirklich niemand hinterher.

Zudem lernten wir die wunderbare Penny kennen, eine Frau mit zwei Boxern, die uns zeigte, was für liebe Hunde diese Boxer sind. Trotz des vertrottelten Anblicks. Trotz einer Tonne Wichse in der Fresse. Penny war etwa so alt wie wir, sah aber zwanzig Jahre älter aus, womit sie wenig Probleme hatte. In gewissem Sinne kokettierte sie sogar mit ihrem verwohnten Antlitz.

“Jedes Mal, wenn ich in den Bus einsteige, springen die Einäugigen und die Lahmen auf und bieten mir eilfertig ihren Sitz an. Was willst du mehr.”

Sie trug abgewetzte, ehedem knallbunte Regencapes, auch im Hochsommer, und einen pflaumenblauen Hut. Nicht, dass sie kein Geld für Klamotten gehabt hätte, sie gab ihr Geld lieber für anderen Kram aus. Keine Ahnung, wofür. Irgendwas wird es schon gewesen sein. Sie war Beamtin. Sie hatte monatlich Geld.

“Was soll ich mir großartig Sachen kaufen, wenn meine zwei Sprinkleranlagen mich ständig bewässern. Da kann ich ja schon besser Neopren-Anzüge tragen.”

Bobby und Stan, ihre beiden durchtrainierten Boxer, waren vom alten Schlag, mit mächtig Speichelfluss. Echte Sabbertaschen, deren Köpfchen ich grundsätzlich nicht streichelte, wenn man sich auf den weiten Spazierfeldern rund um Theeegarten begegnete.

Es war früh am Nachmittag, einer der letzten Wintertage. Es schneite nicht, es fluste vom Himmel. Winzige weiße Flöckchen. Als hätte der Herrgott fürs ganze Land eine läppische Handvoll Schnee eingesteckt, und die wurde auch noch verweht, just in dem Moment, als er die Hand öffnete, um das Land zu segnen.

Penny hatte nur einen ihrer beiden Schützlinge dabei, Stan, der ganz verrückt nach Frau Moll war, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Und so machten sich die beiden Flittchen und Hurensöhne sofort übereinander her, gingen in den Clinch, bis die Rippen krachten.

Penny, gesprächig wie immer, kam sofort auf den Punkt.

“Ich hab heute einen Anruf gekriegt. Unser Kassierer hat sich erschossen. Im Wohnzimmersessel. ”

Moment mal.. Wenn man das so hört, ein Kassierer hat sich erschossen, denkt man da nicht gleich “Unterschlagung?”

“Keine Unterschlagung. Ist ja nur unser kleiner Boxer-Club, da lohnt keine Unterschlagung. Ausserdem hätte der Willi das nicht getan.”

“Na, denkt man das nicht immer? Nur weil Kassierer harmlos in der Ecke sitzen und still die Mitgliederbeiträge zählen. Und hinterher stellt sich raus, es war der Buchhalter.”

“Der Buchhalter?” blinzelte die Gräfin.

“Na, dann eben der Kassierer.”

“Ach, der Willi”, meinte Penny. “Der hat so was nicht.. also, der war..  nicht gewitzt genug um Geld zu unterschlagen. Eigentlich ein lustiger Kerl, ein richtig gemütlicher Kölner, bis man vor einem halben Jahr Darmkrebs bei ihm fand. Ich hab ihn nie mehr lachen gesehen. Der wurde immer trauriger. Der Willi.”

“Ach, der arme Kerl”, hauchte die Gräfin, die bis eben von Willis Existenz nichts geahnt und selbst einige Tage malad niedergelegen hatte.

“Ja, aber der Krebs war doch gutartig, der hatte gar keine Metastasen gebildet. Da lag gar kein Grund vor, sich zu erschiessen. Willi wäre wieder gesund geworden.”

Penny trug ein fliederfarbenes Blouson, ein komplett zerknittertes Unikum, das unterm Mantel hervorblitzte.

“Und dann auch noch im Wohnzimmer..”

Sie bevorzugte eine ruhige Tonlage. Sie war niemals aufgeregt, immer cool. Ein Monolith in der Klanglandschaft. Sie trug eine knubbelige kleine rote Nase im Gesicht, ein Clown, der keine Maske mehr aufziehen musste, weil das Leben sich tief genug eingraviert hatte.

Penny war eine praktische Frau. Vielleicht ein bisschen mäkelig.

“Ich mein, da kommt die Rosi von der Arbeit nach Hause, geht ins Wohnzimmer, und wer hängt da im Sessel und hat sich ein Loch in den Kopf geschossen?! Der liebe Ehemann. Muss das sein? Ich mein, ist das denn nötig? Hätte der Willi nicht in den Wald gehen können wie jeder andere Selbstmörder auch? Oder er wär meinetwegen vor eine Mauer gedonnert. Hätte einen Unfall vorgetäuscht, damit Rosi wenigstens die Lebensversicherung ausbezahlt kriegt – aber so.. bei Selbstmord.. da gibt’s nix. Es wird schon schwierig, einen Pfarrer zu finden, der die Beerdigung macht und ein paar Worte spricht. Der war ja schließlich Katholik, unser Willi. Ein Kölner Katholik. So einer bringt sich nicht um. Das tut ein Kölner nicht.”

Ich beobachtete eine Schneeflocke, die sich auf ihrer knubbeligen Clownsnase niederliess und auf der Stelle wegschmolz, wie Butter in der Pfanne.

“Also, vor eine Mauer fahren ist jetzt auch nicht ohne”, räusperte ich mich. “Stell dir vor, du bleibst querschnittsgelähmt zurück, dann hast du die Kacke aber richtig am dampfen.”

“Ach was, mit hundert Sachen vor die Mauer, da bleibt nicht viel übrig”, hielt Penny dagegen. “Willi fuhr einen klapprigen alten Ford, das hätte schon funktioniert, nee, lass mal – den hätte man mausetot aus dem Wrack gezogen. Aber so wie es gelaufen ist.. gemütlich im Sessel sitzen, Zeitung lesen und sich erschiessen, kurz bevor Rosi nach Hause kommt, also, ich weiß nicht.. Das muss doch nicht sein.”

Als Penny verschwunden ist und wir den Heimweg antreten, verlieren wir kein Wort mehr über die Angelegenheit. Wir kannten Willy nicht. Jeder hängt seinen Gedanken nach.

“Ich tippe auf Unterschlagung”, sag ich.


Tischgespräche (92)

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Zu Tisch I, Sue Eggert

“Zum Psychologen..? Du meinst die Pappnasen, die dir ein Motto verpassen, damit du durch den Karneval kommst, Joe?!”


Der LSD-Soldat

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Mausner war ein undurchschaubarer bleicher Bursche und versuchte LSD in Heimarbeit herzustellen. Er trug einen langen schwarzen Gestapo-Mantel, den er von seinem Opa geerbt hatte, und seine Gesichtsfarbe war fahl bis auf die Knochen, bis auf die Bäckchen, die ständig die Farbe wechselten. Mal glühten sie in einem Rotkäppchen-Rouge, mal waren sie eisblau, als wäre Mausner gerade dem Kühlraum einer Metzgerei entstiegen.

Er kam uns vor wie jemand, der ständig auf der Flucht war. Er war nie wirklich anwesend, immer nervös und auf der Hut. Es war kaum möglich, mit ihm ein wirkliches Gespräch zu führen. Er dozierte, und sein Gegenüber hatte zuzuhören.

Drogen waren eigentlich nicht sein Ding. Bis auf uns hatte er keinerlei Kontakt zur Szene. Und auch an uns war er nur zufällig geraten, da er in dem Haus an der Meigener Straße wohnte, in dem Rüttgers eingezogen war. Mausner hörte uns abends zusammensitzen, kiffen und Zappa hören, und kam runter. Er setzte sich zu uns und lernte eine andere Welt kennen.

Mausner studierte Chemie, aber niemand sah man ihn je zu Vorlesungen fahren. Wir wussten auch nicht, was er da oben trieb in seiner Wohnung unterm Dach. Auch Rüttgers, der im Erdgeschoß wohnte und sonst so leutselig war, hielt sich bedeckt. Einmal hörten wir die beiden im Treppenhaus lautstark miteinander streiten. DU JAGST UNS ALLE NOCH IN DIE LUFT! brüllte Rüttgers, worauf Mausner den schweren Nazi-Mantel zuknöpfte, den Gürtel festzurrte und beleidigt davon marschierte.

Dass es dabei um die Zubereitung von LSD ging, erfuhren wir erst im Nachhinein, und da war quasi schon alles gelaufen. Mausner hatte sich auf dem Speicher des Hauses eine kleine Dunkelkammer unter Fotolaborbedingungen eingerichtet, weil Derivate unter Lichteinwirkung verfallen, wie er mir und Pepe später anvertraute. Wir hatten keinen blassen Schimmer, wovon er sprach. Noch heute würde ich kein Wort von dem kruden Zeug kapieren, das er uns damals auftischte, doch heute würde ich immerhin gut hinhören, um es halbwegs vernünftig wiedergeben zu können. Mausner, sonst so gehemmt, blühte richtig auf, wenn er von Problemen bei der Produktion von LSD sprach, von Massenformeln, von Molekülen und Vakuumbedingungen. Es stellte eine Herausforderung für ihn dar, und wir sollten als Versuchskaninchen herhalten.

“Ihr seid doch immer so geil auf Pillen. Bei mir kriegt ihr alles umsonst!”

Pepe und ich glotzten ihn an wie einen Alien.

Mausner war eine seltene Pflanze, mit bleichem Fruchtstand. Er kniete sich voll rein in die theoretischen Voraussetzungen, um LSD herzustellen, doch da er trotz mühseliger Recherche nicht an Mutterkorn herankam, unerläßlich für die Herstellung von LSD, versuchte er an eine Alternative zu gelangen, an den Samen einer Pflanze namens Morning Glory. Indios und Mayas hatten das Halluzinogen in den alten Tagen für rituelle Zwecke genutzt. Es sollte einen in tiefe Trance führen und dafür sorgen, das Wesen der Dinge besser zu begreifen. Na schön – aber wofür dann noch LSD kochen? maulten wir, wenn Morning Glory doch schon topp war. Lass sein, Mausner. Besorg Morning Glory. Das reicht. Das tun wir uns vielleicht rein, aber was du daraus machst, interessiert uns nicht. Dein Home Cookin Kack. Ich meine, wir waren jung, aber nicht doof.

Nicht so doof.

Wie auch immer, Mausner kam nicht heran an Morning Glory. Damals gab es noch kein Internet, wo sich weltweit alles per Mausklick ordern ließ. Es war alles viel komplizierter, und manches klappte nicht. Niemand wusste richtig Bescheid. Es gab natürlich kleine Schieber, die mit LSD dealten, aber von Einzelheiten bei der Herstellung hatte niemand einen Schimmer. Wir fragten uns sogar, wer dieses ganze LSD überhaupt herstellte, das auf dem Markt war.

“Na, Chemie-Studenten”, knurrte Mausner. “Wer sonst.”

Lucy aus Langenfeld immerhin glaubte, etwas zu wissen. Die Schwester, die gern mit ihren hängenden weißen Titten kokettierte, meinte (ungelogen), Morning Glory kann ich klarmachen, wieviel brauchst du? einen Karton? Als Mausner davon berichtete, fing er vor Wut an zu schnauben und zu zittern und stieß gepresst hervor, die glaubt tatsächlich, dass LSD fünf Minuten ziehen muss! Sie dachte, es ginge um Tee.

Mausner verwarf Morning Glory und probierte es mit harter schweißtreibender Chemie. Stattete sein Untergrund-Labor mit Haatrocknern aus, wofür auch immer. Ich weiß nicht, was aus der ganzen Sache geworden ist. Das Haus, in dem er und Rüttgers wohnten und auf einem riesigen Stapel Zappa-Platten saßen, wurde 1978 abgerissen. Eine Weile sah man Mausner mit einem Hausschwein durch die Gegend tingeln, einem großen Tier, dessen Zitzen über den Boden schleiften wie offene Schnürsenkel, dann tauchte er ab. Wie man hörte, verschwand er auf der Rheinschiene und wurde nie wieder gesehen.

Rüttgers zog in die Nordstadt. Auch da trafen wir uns eine Weile noch zum Zappahören und Haschischrauchen. Pepe, Benzini, die Hansen-Brüder, Banane-Martin, Karlos und der Mitsubishi Boy kamen vorbei und saßen herum, doch es war nicht mehr dasselbe. Es war anders geworden. Die gottverdammten Achtziger brachen an.


Danke, VW

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Da ist man als ganz normaler Bürger längst zum Satiriker gereift und glaubt, dass einen so schnell nichts mehr überraschen kann, dass so gut wie alles auf der Welt den Tatbestand des genormten Alltag-Witzes erfüllt, und dann kommen die Software-Lumpen von VW daher und überrumpeln einen mit jahrelangem Getrickse und Getäusche. Immerhin sorgen sie als deutsches Vorzeigeunternehmen für einen gewissen Ausgleich. Gerade noch rechtzeitig, bevor wir als Super-Nation der offenen Arme in die jüngere Geschichte eingehen.

*

Flüchtlinge.

Es lohnt ein Blick in die eigene Familie. Auch Deutsche stammen von Flüchtlingen ab, und sei es in der soundsovielten Generation. Viele von uns sind Nachkommen von Menschen, die ein besseres Leben gesucht haben in einem anderen Land, viele gleich in einem anderen Teil der Welt.

Meine Großeltern mütterlicherseits kamen Punkt 1900 aus Prepotto im Friaul, einer verarmten Bergregion in Norditalien an der Grenze zu Slowenien. (Heute weltberühmt für den Wallfahrtsort Castelmonte.) Die Sippe der Lesizzas (man kam in Mannschaftsstärke) heuerte in Solingen als Straßenpflasterer an, Deutsche wollten solche Arbeit nicht machen. Meine Großmutter, schon in Deutschland geboren, galt dennoch als Italienerin und erzählte oft davon, wie sie in der Schule bespuckt, getreten und beschimpft wurde, als dreckiges Ölauge und Itakker-Hure.

Das ist eine Seite des Themas, die nachvollziehbare Sicht der Flüchtlinge, die andere Seite zeigt Deutschland als zu kleines, zu eng bewohntes Land, um Millionen Menschen Platz und Zukunft gewähren zu können, während viele Staaten um uns herum untätig bleiben und gaffen. (Mit einer gewissen Schadenfreude.) Was die Zahl der Menschen betrifft, die Europa aufnehmen kann, müssen Obergrenzen gezogen werden, sonst seh ich schwarz für die Akzeptanz von Flüchtlingen durch Einheimische.

Ich höre immer wieder das Argument, dass Länder wie die Türkei oder der Libanon schon jetzt Millionen von Flüchtlingen Schutz bieten, aber der Vergleich hinkt. Die Menschen leben dort in riesigen Lagern unter beschissenen Bedingungen, und da sie so nah zur Heimat sind, werden sie bei der erstbesten Möglichkeit ihre Habseligkeiten zusammenraffen und zurückkehren. Von Integration ist dort keine Rede, weder von der einen noch von der anderen Seite, ganz anders in Deutschland. Hinzu kommt: Je weiter ein Mensch von zu Hause fort ist, desto eher bleibt er in der Fremde.

*

Was den Umgang mit Flüchtlingen betrifft, darüber hat Oliver Driesen bereits am 8. September in Dieser eine, rauschhafte Moment des Gutseins geschrieben:

.. Was uns aber dabei zuverlässig aus der Bahn wirft, ist unser Hang zum melodramatischen Augenblick, zur vermeintlich selbstlosen, in Wahrheit aber grandiosen Geste. Es ist, als wollten wir um jeden Preis Selfies produzieren und zur Selbstvergewisserung immer bei uns tragen, die uns als  fröhliche, tolerante, weltoffene, sorglose und sorgende Menschen im Kreise unserer Lieben zeigen. Eine Szene, an die wir glauben möchten, für einen rauschhaften Moment. ..

Driesen, Wirtschaftsjournalist und Blogger, der gerade mit seinem Roman Wattenstadt debütiert, traut der ganzen Wllkommens-Tümelei ebensowenig wie ich. Denn was bleibt, wenn die Gefühle erkalten? Was, wenn die Zelebration vorüber ist? Die Rechten brauchen sich bloß in Geduld zu üben, nur ein bisschen zu warten, bis sie die Meinungsführerschaft auf der Straße übernehmen, man hebt jetzt schon überall das Köpfchen. Der Hass auf zu viele Einwanderer kommt so sicher wie das Amen in der Kirche. Häuser in Flammen, Menschenfleisch, ich hab es schon einmal gerochen in Solingen..

*

Nun hat Driesen seine Zeilen bereits Anfang September geschrieben, vor Bekanntwerden der großen Diesel-Verarsche durch VW. Mittlerweile sind wir Deutsche ja wieder die Schurken. Sagen wir, halb und halb. Wir sind halb gut, halb schlecht. Wie die meisten Völker. Die Welt ist wieder im Gleichgewicht. Danke, VW.

Für die Viele Wahrheit.


Lieblingsbild von Wehmut im November im Oktober

Tischgespräche (93)

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Tischgespräche 2, Susanne Eggert

“Was meinst du, Joe, ob Gott existiert?”

“Ich glaube nicht.”

“Ich auch nicht. Aber weißt du was?”

“Was?”

“Ich fände es besser, wenn es Gott gibt.”

“Du meinst einen, mit dem man mal ein paar Takte reden kann?”

“Ja, der einem erklärt, was das alles soll. Irgendwer muss dafür gerade stehen!”

“Ist aber keiner da.”

“Nee. Kein Gott, weit und breit.”

“Schade.”


Die Sache mit den Glühwürmchen

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Nein, sie mag keine deutsche Fernsehkrimis. Sie verachtet Tatort und Polizeiruf. Miserable Dialoge, kaum Action, schlechte Schauspieler. (“Woran erkennt man einen deuschen Schauspieler? Daran, dass er Schau spielt.”) Und die Handlung? Spielt sich nur noch im Mund ab. Es wird gequasselt, gequasselt, gequasselt.

“Gestern hab ich zufällig einen alten Schimanski gesehen, Blutsbrüder. Der war tausend Mal wärmer und menschlicher als die ganzen neurotischen Ermittler heutzutage. Spannender sowieso. Schimanski war sich auch nicht zu schade, einen schmierigen Verdächtigen am Schlaffittchen zu packen und ihn ranzunehmen bis der sich vor Angst in die Hosen gemacht hat. Das sieht man heutzutage nur noch in den Nachrichten.”


“Sag mal, ist nichts anderes drin?” stöhnt sie und zappt durch die Programme. Ich nehm die TV-Zeitschrift vom Tisch und lese ihr den Titel eines Hochsee-Thrillers vor, der gerade anläuft.

“Open Water, USA, 2003. Effektiver Low-Budget-Überraschungshit.”

“Nee, den kenn ich”, winkt sie ab. “Da hängen irgendwelche Penner die halbe Zeit im Wasser und schreien rum, weil dicke Fische angeschwommen kommen. Ich mein, die sind im Wasser! Hallooo!! Wo sollen Fische denn sonst hin??”


Die TV-Ansagerin kündigt den Spätfilm an, eine französisch-italienische Co-Produktion, einen Sixties-Klassiker, sinnlos im Plural. Sinnlos im Plural..? Wie, sinnlos im Plural? Was redet die Ansagerin fürn Scheiß? Oder ist das eine verdammte Literaturverfilmung? Erst als ich in der TV Today nachschlage, begreife ich: ich hab mich verhört. Der Schinken ist mit Lino Ventura.


Zehn Minuten später.

“Schnell! Komm mal!” ruft die Gräfin aus der Wohnküche. “Die Sterne sind vom Himmel gefallen.. mitten in unseren Garten!”

“Das wurde aber auch Zeit”, geb ich zurück. “Endlich fette Beute.”

“Nun komm schon..! Mach hin!”

Bis ich den zunehmend dicken trägen Hintern aus dem Bett bewege und endlich in der Küche ankomme, ist sie schon einer neuen Theorie auf der Spur. Na, jedenfalls, das mit den Sternen ist perdu.

“Ich glaube, da unten sind Glühwürmchen zugange. Oder nicht? Guck mal! Meinst du, das sind Glühwürmchen..??” Sie zerrt an meiner Schulter. “Aber wieso liegen die im Gras?! Was machen die da unten im Gras? Bumsen?”

Großartig! Welch ein Spektakel, trotz Dunkelheit und Nieselregen: Es leuchtet und flackert im ganzen Hinterhof, winzige bläulich-gleissende Lagerfeuer, entzündet von liebestollen Fluginsekten. Das glüht “wie auf einer verdammten Festwiese!”

Wir stehen ergriffen am Fenster, zwei Rentner, die um Mitternacht noch wach sind, weil sie zufällig zur gleichen Zeit aufs Töpfchen müssen. Das macht mich skeptisch. Wir hatten zwar schon mal Glühwürmchen im Garten, die zu Dutzenden durch die Nacht sausten, eine grünlich blinkende Halluzination von zuviel Glutamat..

“.. aber im Oktober..? Glühwürmchen? Und bei dem Wetter? Geht das zusammen?”

“Ach was, ist denen doch schnuppe, wenn die ein bisschen nass werden.. Wenn die einmal glühen, glühen die. Dann wird gebumst, Freunde!”

Sie schlüpft in ihre Ballerinas und flappt die Treppe runter in den Hof. Flapp-flapp-flapp.

Ich bleib solang oben am Küchenfenster und versuche zu erkennen, was sie da unten im Garten treibt. Leuchtkäfer fangen und eintüten, so wie es unsere Großväter einst mit Maikäfern getan haben? Gut möglich. Ich kenne sie als Anhängerin traditioneller Lebensführung. Sie springt auf der Wiese umher wie das Sterntalermädchen, nur dass ihr keine Sterntaler ins Hemdchen fliegen, sondern fluoreszierende Insekten.

Es dauert keine Minute, und sie ist zurück – durchgefroren, das Nachthemd nass, die Möpse vor Spitzbergen.

“Glühwürmchen, so ein Blödsinn – weißt du, was das ist? Das sind Regentropfen, die auf den Grashalmen sitzen und das Licht reflektieren aus den umstehenden Häusern..  Irgendwelche Küchenlampen, Haustürleuchten..”

Still und leise gesellt sich der Hund zu uns, genau in die Mitte. Unbeeindruckt von dem ganzen Trara und Geflacker war er auf seiner Decke geblieben, ganz gegen seine Gewohnheit. Er gähnt ausgiebig.

Es ist null Uhr fünfzehn, als ich im Bett liege und mir alles noch mal durch den Kopf gehen lasse. Die Sache mit den Glühwürmchen, funkelnde Regentropfen, das Gähnen unseres alten Hundes, der allmählich hinfällig wird, andererseits aber nicht unclever agiert.. und dass Schnürregen und ähnliche Wetter-Kapriolen so etwas wie die letzten Anarchisten sind in diesem Land.

Die einen richtig verladen.



Tischgespräche (94)

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Zu Tisch I

“Siehst du, Joe – es passiert schon wieder: Ich werde auf Schritt und Tritt von einem Kamerateam verfolgt – aber die Schweine machen die Kamera nicht an..!”


Madam Wunderbar

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Ich stand beim Bäcker an und betrachtete die alte kleine Frau neben mir. Sie musste über neunzig sein. Ihre gekrümmte Haltung erinnerte mich daran, wie ich meiner Mutter vor Jahren in den Mantel half. Ich bemühte mich, die widerspenstige Beule glatt zu streichen, die sich auf ihrem Rücken gebildet hatte, fast so groß wie der Knauf eines Treppengeländers, bis mir aufging, dass es sich gar nicht um den Mantel, sondern um ihren beginnenden Buckel handelte, verdammt.

Die alte Frau lächelte mich an. Sie war ärmlich gekleidet. Ihre Schühchen waren so ausgetreten, dass sie eine Nummer zu groß erschienen, der blaue Mantel war ausgeblichen, die ausgeleierten Nylonstrümpfe warfen Falten. Sie stützte sich umständlich auf den Rollator und suchte in ihrem Portmonee nach Kleingeld, obwohl sie noch gar nicht an der Reihe war.

Je länger ich ihr wohlmeinendes runzliges Gesicht betrachtete, von einer verflachenden Dauerwelle umrandet, desto wärmer wurde mir. Es war so ein Moment, wo einem eine unbekannte Person in unmittelbarer Nähe so sympathisch wird, dass man sie am liebsten an der plötzlichen Zuneigung teilhaben lassen möchte.

Madam, Sie sind wunderbar.

Aber das sagt man nicht. Man denkt es nicht mal. Man fühlt es nur. Vielleicht. Wenn man Glück hat.

“Die Dame.. Sie wünschen..??”

Die pummelige Verkäuferin hatte Mühe, die alte Frau vor der Theke auszumachen, so klein war sie von Gestalt.

“Drei Kümmelbrötchen”, piepste es links von mir. Dabei lächelte die Alte so unschuldig, als wäre sie gerade aus dem Himmel gestiegen und wolle hier unten nur kurz nach dem Rechten sehen. Und wo sie schon mal hier war, nahm sie gleich drei von diesen herrlichen Brötchen mit.

“Tut mir leid, Kümmelbrötchen führen wir lange nicht mehr. Vielleicht Laugenbrezel? Darf ich Ihnen drei Laugenbrezel einpacken?”

Die Alte schaute mich an. Ich nickte. Warum? Keine Ahnung. Eine Eingebung.

“Gut. Ja. Dann drei.. Brezel”, sagte sie und zwinkerte freundlich.

Aus meiner Sympathie erwuchs eine heiße Flut, ein generationsübergreifender Nylonstrümpfchen-Tsunami der Zuneigung.

“Der Herr.. halloo.!? Kann ich Ihnen weiterhelfen?”

Ruhe. Ich spreche mit einem Engel.

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All diese furchtbaren Menschen! Schalt das weg!

Die 50 allerbesten Platten meines Lebens (14): Like a rolling stone, Bob Dylan

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Als das Jahr 2000 anbrach, verbannte ich über 99 Prozent meiner Schallplatten auf den Dachboden. Ich hatte die Nase voll von Platzfressern und Pressware, die mir nichts mehr sagte, die ich mir nicht mehr anhörte. Lediglich einige ausgesuchte Juwelen behielt ich unten in der Wohnung. Die Auswahl traf ich spontan, doch die Fehlerquote war gering, wie sich zeigte. Nur selten musste ich in den folgenden Jahren die Treppen zum Dach hochsteigen, vorbei an Lester, unserem hauseigenen Karlsson, um das ein oder andere Vinyl nachzuordern, City Lights Dr. John. Pop Pop – Rickie Lee Jones. He is the Light – Al Green.

Dass ich relativ selten Musik hörte, lag auch am kränkelnden Equipment. Mal war bloß der Stecker des CD-Players kaputt, (was heisst “bloß” – ohne Stecker geht gar nichts), mal gab der Plattenteller des Plattenspielers seinen Geist auf und bewegte sich mit 0 Umdrehungen durch sein schwarzes Gummigrab.

Erst als mein Vater ins Altenheim umsiedelte und ich mir seinen HiFi-Turm unter den Nagel riss, inklusive Plattenspieler, Kenwood-Verstärker, einem Satz Boxen und HiFi-Recorder mit zwei Motoren, CD-Player sowie einem zweiten Verstärker und einem weiteren, insgesamt dritten Kassettendeck, war ich wieder im altehrwürdigen Musikgeschäft.

Sagen wir, ich hätte es sein können, denn ich war es nicht. Trotz des funktionierenden 6stöckigen Equipments und der durchaus vorhandenen Bereitschaft, mich von brandneuen Songs elektrisieren zu lassen, hatte ich das Interesse an Popmusik verloren – und hab es bis heute nicht wiedergefunden. Und mittlerweile reicht es vollkommen aus, ein LP-Cover zur Hand zu nehmen und im Geiste die Stücke durchzugehen, die ich früher oft gehört habe. Mehr brauche ich nicht. Mein Speicher ist zum Bersten gefüllt.

Die 50 besten Platten meines besten Lebens, Folge14.

An einem Samstag Ende September sind wir im Trio unterwegs, Mann, Frau, Hund, – die 3 ist eine magische Zahl, die 3 zeigt an, dass es losgeht, dass die Dinge ins Rollen kommen – doch die folgende Sensation wird lediglich von mir wahrgenommen:

Als ich beim Gehen gleichmütig nach rechts schaue, kommt wie aus dem Nichts ein rotes Laubblatt angeschaukelt. Ganz automatisch öffnet sich meine Hand und ich schnappe das Blatt mit einer Lässigkeit aus der Luft, als würde ich Wechselgeld entgegennehmen und dabei noch mit dem Wind flirten.

Großartig.

“Hast du das gesehen..?”

“Mh?”

“Na, das Blatt.. Wie das angesegelt kam und wie locker ich das aus der Luft gepflückt habe..”

“Was für ein Blatt?”

“Na, das hier..!”

Es liegt auf meinem Handteller. Ich bin begeistert vom eigenem Flair. Dass mir das passiert. Ich bin auserwählt. Big Deal, Honey.

“Ist direkt hier reingetrudelt, in the palm of my hand. Ich glaub, das ist mir noch nie passiert, in meinem ganzen Leben nicht.. So locker, wie bestellt.”

“Moment mal.. In the palm of my hand?” Die Gräfin bleibt stehen. “Woher kenn ich das noch mal..? Ist das nicht aus einem Song von Dylan?”

“Dylan? Welcher Dylan?”

“Wie, welcher Dylan?! Bob Dylan natürlich!”

“Ja gut, aber heutzutage hat jeder seinen eigenen Bob Dylan. Es gibt einen italienischen Bob Dylan, einen russischen und einen bayrischen, es gibt Songwriter in Australien, die als the new Bob Dylan gefeiert werden, Köln hat seinen Bob Dylan, England hat einen, Montenegro wahrscheinlich auch, und Amerika.. Amerika hat garantiert hundert Bob Dylan.”

Als ich fertig bin, legt sie diesen Blick auf, den sie immer dann auflegt, wenn mir die Gäule durchgehen. Ein Blick, der ungefähr so viel bedeutet wie, jetzt mach mal halblang, du alter Schnurrrad-Conferencier auf dem Sommerfest vom Spar-Klub.

“Wenn ich Dylan sage, meine ich natürlich den einzig echten Welt-Bob Dylan”, sagt sie feierlich.

“Du meinst Robert Zimmermann.”

“Genau. Und der kommt aus Amerika, wie so ziemlich alle echten Menschen in den letzten hundert Jahren.”

“Bis auf Juri Gagarin.”

“Juri Gagarin?”

“Ja, der erste Astronaut im All, ein Russe. Als er zurück auf der Erde war, sagte seine Mutter: Was hat der Junge bloß wieder angestellt? Eine Legende.”

Sie lächelt.

“Na schön. Aber weißt du auch, was Dylans Geheimnis ist?”

Ich überlege ein bisschen, weil Dylan vermutlich das größte Geheimnis der Popmusik insgesamt ist, aber das mal eben auf einen Nenner bringen.. mh, schwierig.

“Dylans Geheimnis ist, dass er es sich erlauben kann, Rätsel aufzugeben”, fährt sie fort. “Dass die Leute sich nicht gelangweilt abwenden, sondern versuchen, seiner Magie auf die Schliche zu kommen. Das schafft nur er, auf die Länge der Karriere gesehen.”

Beim Weitergehen beginnen wir Like a rolling stone zu summen, und je länger wir summen, desto mehr reisst uns das beste Lied aller Zeiten mit. Zuletzt stürzen wir kopfüber in den Refrain, als ginge es die Klippen runter, mit Sehnsucht und Südstaaten-Whiskey in der Stimme.

“Darin kommt aber nicht in the palm of my hand vor. Das ist ein anderer Song. Aber ich komm nicht drauf, welcher..”

Da kann ihr auch nicht weiterhelfen.

“Na, nicht schlimm”, meint sie. “Hauptsache, ich denke automatisch an Bob Dylan, wenn mir irgendwo das Wort palm begegnet, und nicht an Palm-Fett. Ich bin immer noch ein Rocker.”

Am 16. Juni 2015 war es genau 50 Jahre her, dass Like a rolling stone in New York aufgenommen wurde – ein Song, der ursprünglich 50 Strophen zählte und von dem Dylan selbst sagt, es sei der beste, den er je geschrieben habe.

Das amerikanische Rolling Stone Magazin kürte Like a rolling stone im Jahr 2004 zum besten Song aller Zeiten (bis dahin), vor Satisfaction von den Stones und Imagine von Lennon.

Ich seh mich 1976 mit langem Haar und orangefarbenen Stereo-Kopfhörern vorm Plattenspieler sitzen und dieses (irgendwie frugale) Meisterwerk hören, wieder und wieder. Allein der Schwung, mit dem Like a rolling stone aus den Startblöcken kommt, diese gewaltige Raubkatze, die sich sechs Minuten lang daran macht, ihr Revier mit Träumen zu markieren.. und tief in den Büschen versunken hocken wir, die Beute, die 16jährigen, die Dylanmafia, voller Hingabe.

Was für ein Gefühl das sein muss, über die Straße zu gehen und zu denken, Mannomann, ich hab den cleversten Popsong aller Zeiten geschrieben.

Boah.


Die 50 allerbesten Platten meines allerbesten Lebens (15): Irgendwas von Neil Diamond

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Als ich freitagabends wach werde, läuft ein Western im Fernsehen.

Im Film-Saloon stimmt der Film-Cowboy am Film-Klavier einen echten Song an, dessen Intro mir bekannt vorkommt. Ich weiss aber nicht, welches Stück das ist. Ich komm nicht drauf.

Ich stecke noch halb im Traum drin, und da ist dieser Song, auf dessen Titel ich nicht komme. So was kann mich wahnsinnig machen.

Die Gäste im Saloon fallen gerade nacheinander in den Song ein, als die Gräfin vom Klo kommt.

“He, du bist ja wach!” Sie schnippt mit den Fingern, als sie das Lied hört. “Was ist das noch mal?!”

Kurz bevor der schwärmerische Refrain einsetzt, wir haben die Lautstärke voll aufgedreht, kommen wir gleichzeitig drauf: “SWEET CAROLINE..!” von Neil Diamond!

“GOOD TIMES NEVER SEEM SO GOOD.”

“Da möchte man im offenen Chevy sitzen”, ruft die Gräfin mitten in die Gitarre rein, “die Haare flattern im Wind, irgendwo in Amerika, und niemand weiss, wo man ankommt!”


Tischgespräche (98)

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Tischgespräche 2, Susanne Eggert

“Eigentlich könnte man den Kids sagen, hört mal, ihr braucht gar keine Drogen zu nehmen, ihr müsst nur ein bisschen warten, bis ihr alt geworden seid. Dann kommt das Durchgeknalltsein von ganz allein.”


Wir gehen Herbstferien


Tischgespräche (98)

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Tischgespräche 2, Susanne Eggert

“Eigentlich könnte man den Kids sagen, hört mal, ihr braucht gar keine Drogen zu nehmen, ihr müsst nur ein bisschen warten, bis ihr alt geworden seid. Dann kommt das Durchgeknalltsein von ganz allein.”


In den Kartoffelferien

Die 50 allerbesten Platten (16): Shame shame shame, Shirley & Company

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Sie hatten nur diesen einen Hit, aber was für ein Monster, Shirley (Goodman) and Company. Wir saßen 1975 an der Schlagbaumer Straße, die ganze Clique, bestimmt 30 Jungs und Mädchen, zu jung, um in die Disco zu kommen, das Top Ten. Es war Sonntagnachmittag, alle trugen Jeansjacken und Hose mit Schlag, die Mädchen weiße Rüschenblusen und Apfelshampoo im Haar. Wir saßen auf dieser Mauer gegenüber des Top Ten, dazwischen die Straße, auf der die Autos im Schritttempo vorüberfuhren, neugierig, weil die Leute sehen wollten, was da los war, warum da so viele Kids auf einem Haufen hockten. Schuld war der Türsteher des Top Ten. Er hatte keine Gnade, er liess uns nicht rein, keinen von uns. Ihr seid zu jung. Erst ab 16. Haut ab mit euren Schülerausweisen, die hätte meine Omma besser gefälscht, ihr verdammten Hühnchen.

Und dann ging die Tür auf, weil jemand Luft schnappen wollte. Zuvor hatten wir schon Schnipsel von Barry White aufgeschnappt, von Gloria Gaynors Never can say goodbye, boy und von George McCraes Rock your baby, all diese wunderbaren Smash-Hits, die uns nur noch zappeliger machten. Das war unsere Musik, sie verboten uns zu tanzen, wir waren 15, wir hatten den Sex gepachtet, wir wollten uns bewegen, wir mussten uns bewegen, doch wir durften nicht, es machte uns wahnsinnig, Revolution lag in der Luft. Und dann setzte Shame shame shame ein und brachte die Mauern zum Einstürzen.

Wie auf Kommando sprang alles auf, bei den ersten Takten, your feet want to move, es gab kein Halten mehr. Selbst der Türsteher war so baff über das plötzliche Treiben, dass er die Eingangstür offen liess, so lange der Song lief, 3 Minuten 51. Die Sonne war draußen, wir groovten und shakten so ungelenk, als wäre es kein Soul, sondern Rock’n Roll, weit ab von jeder Disco-Coolness pulsierten die Füße und taten, was sie wollten. Bump, Jive, Polonese, Scheiß drauf – alles, was ging, wir tanzten es. Die Tanzfläche war der Asphalt.

(Mausis Zähne waren so geweißt, sie blendeten bei Sonnenschein.)

(Kurzrock erinnerte in seiner nervös nestelnden Art an diese verrückten Typen in alten Top of the Pops-Ausgaben, die alle immer einen Tick zu aufgeregt waren. Sie tanzten wie die Holzfäller, und sie vermasselten jede Nummer.)

Noch heute, wenn mir Shame shame shame irgendwo begegnet, in all seiner hitzigen und doch beinah post-koitalen Lässigkeit, seh ich es vor mir, wie 20, 30 Kids über die Schlagbaumer Strasse tanzen, während die Autos anhalten, aber niemand hupt, weil ungeheuerliches vorgeht an diesem Sonntagnachmittag, Frühjahr 1975.

I’m gonna dance ’til the break of day.. My body needs action.. Ohh, it’s gettin’ to me – aaaaaaahhhhhhhhhh……..

*

Wer bei dem Song keinen Ständer kriegt oder nicht feucht wird, war damals nicht dabei.

*

Wahres Tanzen findet allein statt, Jahre später, mit den Ahnen.

sanne.basta.gross


Die 50 allerbesten Platten (16): Shame shame shame, Shirley & Company

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Sie hatten nur diesen einen Hit, aber was für ein Monster, was für ein Move, was für ein MOVEMONSTER,

Shirley (Goodman) and Company.

Wir saßen 1975 an der Schlagbaumer Straße, die ganze Clique, bestimmt 30 Jungs und Mädchen, zu jung, um in die Disco zu kommen, das Top Ten. Es war Sonntagnachmittag, alle trugen Jeansjacken und Hose mit Schlag, die Mädchen weiße Rüschenblusen und Apfelshampoo im Haar. Wir saßen auf dieser Mauer gegenüber des Top Ten, dazwischen die Straße, auf der die Autos im Schritttempo vorüberfuhren, neugierig, weil die Leute sehen wollten, was da los war, warum so viele Kids auf einem Haufen hockten. Schuld war der Türsteher des Top Ten. Ein Typ Marke Rocky Balboa, der jeden Morgen die eigenen Eier zum Frühstück schlürft. Er hatte keine Gnade, er liess uns nicht rein, nicht einen von uns. Ihr seid zu jung. Haut ab mit euren Schülerausweisen, die hätte meine Omma besser gefälscht, ihr verdammten Hühnchen.

Und dann ging die Tür auf, weil jemand Luft schnappen wollte. Schon zuvor hatten wir Schnipsel von Barry White aufgeschnappt, von Never can say goodbye, boy und George McCraes Rock your baby, all diese wunderbaren Phillysound-Hits, die uns nur noch zappeliger machten. Das war unsere Musik, sie verboten uns zu tanzen, wir waren 15, wir hatten den Sex gepachtet, wir wollten uns bewegen, wir mussten uns bewegen, doch wir durften nicht, es machte uns wahnsinnig, Revolution lag in der Luft. Und dann setzte Shame shame shame ein und brachte die Mauern zum Einstürzen.

Wie auf Kommando sprang alles auf, bei den ersten Takten, your feet want to move, es gab kein Halten mehr. Selbst der Türsteher war so baff über das plötzliche Treiben, dass er die Eingangstür offen liess, so lange der Smash-Hit lief, 3 Minuten 51. Die Sonne war draußen, wir groovten und shakten so ungelenk, als wäre es kein Soul, sondern Rock’n Roll, weit ab von jeder Disco-Coolness pulsierten die Füße und taten, was sie wollten. Bump, Jive, Polonese, scheiß drauf – alles, was ging, wir tanzten es. Die Tanzfläche war der Asphalt.

(Mausis Zähne waren so geweißt, sie blendeten bei Sonnenschein.)

(Kurzrock erinnerte in seiner nervös nestelnden Art an diese verrückten Typen in alten Top of the Pops-Ausgaben, die alle immer einen Tick zu aufgeregt waren. Sie tanzten wie die Holzfäller, und sie vermasselten jede Nummer.)

Noch heute, wenn mir Shame shame shame irgendwo begegnet, in all seiner hitzigen und doch beinah post-koitalen Lässigkeit, seh ich es vor mir, wie 20, 30 Kids über die Schlagbaumer Strasse tanzen, während die Autos anhalten, aber niemand hupt, weil ungeheuerliches vorgeht an diesem Sonntagnachmittag, Frühjahr ’75.

I’m gonna dance ’til the break of day.. My body needs action.. Ohh, it’s gettin’ to me – aaaaaaahhhhhhhhhh……..

*

Wer bei dem Song keinen Ständer kriegt, war damals nicht dabei. Oder feucht wird.

*

Wahres Tanzen findet allein statt, Jahre später, mit den Ahnen.

sanne.basta.gross


Denn sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen: Deutschland im Herbst 2015

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